Lilo: Der Johann und ich, wir kennen und schätzen uns jetzt schon eine ganze Weile. Ich weiß noch, als ich dich die ersten Male getroffen habe, hier oben beim Tiergärtnertor. Ich wollte dir ein paarmal Geld geben, aber du hast es nie genommen. Und ich hab mich kaum getraut, dich anzusprechen. Ich wusste nicht, ob ich dich beleidige. Das ist schon eine Art von Scheu. Die haben andere Leute sicher auch.
Johann: Es gibt Leute, die abends bei mir vorbei radeln und „Gute Nacht“ sagen. Es gibt andere, die kommen früh vorbei und sagen „Wildsau!“ Mit manchen Leuten, die ihre Hunde ausführen, rede ich jeden Tag. Andere gehen immer wieder vorbei ohne ein Wort. Das ist die Bandbreite. Aber ob das Scheu ist?
Lilo: Ja, das denk ich schon. Man kennt halt seine Leut’, die leben ungefähr alle dasselbe Leben. Aber eben keines ohne Wohnung. Wir zwei sind dann doch hier an einem Vormittag bei einem Kaffee ins Gespräch gekommen. Und ich war so erstaunt, was du alles weißt, in vielen Bereichen viel mehr Wissen hast als ich. Jedenfalls bin ich gleich zwei Stunden geblieben und war fasziniert. Wir haben über Musik und Komponisten geredet, über Literatur … Das hab ich nicht erwartet. Ich war beschämt über mich und meine Vorurteile. So ungefähr: Wer kein Zuhause hat, hat vielleicht auch sonst nichts im Kopf. Mei, schlimm!
Johann: Und weißt, das hat mich wahnsinnig gfreut, dass wir angefangen haben miteinander zu reden. Dass es egal ist, ob jemand eine Wohnung hat oder nicht. Das spielt einfach keine Rolle. Die Gespräche mit dir, die sind so wertvoll. Das findet sich selten. Du brauchst ja als Mensch jemanden, der auf der gleichen Wellenlänge ist.
Lilo: Ich glaub sogar, dass du manchmal drüber bist. Du hast so viel mehr Wissen.
Johann: Das ist bei manchen Sachen so. Wenn du mir Harfe erklärst, komm ich auch nicht mit.
Lilo: Das macht’s ja so spannend. Eigentlich sollte es so normal sein. Es gibt unter allen Lebensbedingungen Menschen, die Gefühl haben für einen anderen.
Johann: Deswegen ist es für mich so eigenartig, dass Drogentote in den Medien mit Nummern bezeichnet werden. Hinter dem 25. oder 17. Toten des Jahres steckt aber doch ein Mensch mit einem Namen. Vielleicht kannte ich ihn sogar. Eine Nummer macht gesichtslos.
Lilo: Da hast du Recht. Da fällt mir ein, als mir das passiert ist im Frühjahr mit dem Radunfall mit der Hundeleine am Wöhrder See, da wurde ja erst berichtet, eine 63-Jährige sei Opfer einer Attacke geworden. Chris hat mir den Artikel ins Krankenhaus mitgebracht. Da hab ich Steffen (Radlmaier, Feuilleton Nürnberger Nachrichten; Anm. d. Red.) geschrieben „hey, das bin ich“. Er hat gemeint, ich sollte mir überlegen, ob sie meinen Namen schreiben sollen. Da könnte eine Welle an Reaktionen kommen. Die kommt auch bis heute. Ich hab gedacht, schreibt‘s, dann wird vielleicht diskutiert über Gewalt, dann ist es nicht nur eine Meldung, die gleich wieder vergessen ist. Denn sie ist verbunden mit einem Namen, der auch noch relativ bekannt ist. Das ist wie mit dem Drogentoten Nummer 25 und mit allen, die keiner fragt, was sie brauchen könnten.
Johann: Ich vermisse die Bibliothek. Da kann ich ja nicht rein mit meinem Schneckenhaus, mit dem ganzen Hab und Gut, das ich immer bei mir habe. Ich würde so gerne die Heidelberger Liederhandschrift lesen, den Codex Manesse. Und ich vermisse meine Küche. Auf der Straße mit dem Kocher bist du halt doch sehr begrenzt in deinen Möglichkeiten. Wenn ich so eine Holzhütte hätte mit ein paar Quadratmetern, die ich zum Beispiel auf dem AEG-Gelände aufstellen dürfte, das wäre toll. Da käme ich super zurecht. In Obdachlosenpensionen gehe ich nicht. Weil ich einfach nichts mit Alkoholikern zu tun haben möchte. Die können unberechenbar sein. Ich will nicht mit Leuten in einem Raum übernachten müssen, mit denen ich mich nicht sicher fühle.