Die Sprache, die wir zuerst lernen, gehört zu uns, schafft Identität. Ihre Wörter und Redewendungen, ihre wohl klingenden und abstoßenden Vokabeln haben wir dabei. Mag sein, dass die Muttersprache nie wirklich gut gelernt wurde, dass eine andere dazukommt. Mag sein, dass wir an Orten leben, die uns oder unseren Dialekt nicht verstehen – jede und jeder redet oder gebärdet. Wir brauchen Worte, um andere zu verstehen und verstanden zu werden. Unsere Sprache ist uns vertraut. Um sie wird gestritten, etwa beim geschlechter-bewussten Gebrauch, mit ihr wird Politik gemacht – als Amtssprache, zur Unterdrückung und als Ausdruck des Stolzes – dann aber aufs Vaterland. Wir fragen Menschen, die hier in der Region leben, was sie in ihrer Muttersprache besonders erinnern, bewahren. Ein Gedicht, eine Redewendung, einen Halbsatz. Wort-Schätze eben, die wir alle haben.
Die Bäume wollen Ruhe haben,
aber der Wind weht weiter;
der Sohn will sich um seine Eltern kümmern,
aber die Eltern sind weg.
Ich habe mich an dieses Land und an mein Leben in Erlangen sehr langsam gewöhnt, es hat Jahre gedauert. Das Klima ist hier anders, das Essen, es wird anders miteinander kommuniziert und es gibt andere Begrüßungsrituale, bei denen sich die Menschen viel näherkommen als in China, wo sich viele zurückhaltender begegnen. Als ich noch studiert habe, habe ich die Semesterferien bei meiner Familie in China verbracht. Jetzt habe ich eine eigene Familie und kann meine Eltern nur noch sehr selten besuchen, obwohl ich sie so gerne viel öfter sehen würde – aber ich lebe jetzt hier. Bei mir ist es ein bisschen anders herum als in dem Spruch von Konfuzius, den ich gewählt habe. Und deshalb kommen mich meine Eltern mittlerweile besuchen. Die seltenen Momente, die ich mit ihnen habe, sind für mich sehr kostbar. Ich würde schon sagen, dass der Familienzusammenhalt in China stärker ist als in Deutschland. In China kümmern sich meistens die Kinder irgendwann um die Eltern, so kenne ich das. Ich fühle mich als Chinesin und mir ist es auch sehr wichtig, die chinesische Kultur beizubehalten und sie auch an meine Kinder weiterzugeben. Der Deutsch-Chinesische Verein ist da der richtige Ort, um unsere Kultur kennen zu lernen und die chinesische Sprache oder die chinesische Tusche-Kunst zu erleben. Das ist auch für mich sehr wichtig, denn ich stelle fest, nach zwanzig Jahren, die ich jetzt in Deutschland lebe, muss ich China immer wieder aufs Neue kennenlernen.
Ying Zhang (40) kommt aus der Nähe von Peking, wo sie bis 2002 studiert hat. Ihren Master hat sie dann in Erlangen gemacht, wo sie heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt. Sie vermisst die Orte, an denen sie groß geworden ist, und schätzt, dass man sich hier mehr auf Augenhöhe begegnet. Ying ist im Verein Deutsch-Chinesische Bildung und Kultur aktiv.
Protokoll: Sabrina Marzell, Foto: privat
(die mütterliche Ermahnung zur Pünktlichkeit)
Früher hab ich bei Karstadt gearbeitet. Ich hab die Einkaufswägen zusammengeschoben, aufgeräumt und solche Sachen. Meine Eltern haben da auch noch gelebt. Wir hatten die Nürnberger Nachrichten abonniert. Jeden Morgen saß ich da und hab gelesen. Das hat mir so gut gefallen. Dabei hab ich meistens die Zeit vergessen. Dann hat meine Mama immer gesagt „Schick dich halt!“, damit ich nicht zu spät komme. Das war schon gut. Meine Mama hieß Herta, ohne h. Ich habe sie sehr geliebt. Sie ist 2006 nach einem Schlaganfall gestorben, 41 Stunden lag sie im Koma. Mein Vater hieß Johann Baptist. Ich habe ihn auch geliebt. Er ist 2009 gestorben im Krankenhaus, an einer Lungenentzündung. Seitdem lebe ich allein. Noch früher hatten wir Katzen. Die Maschka, die wir immer Mascha genannt haben und die Sissi, die hieß dann bei uns später aber Susi. Alle tot. Ich komme schon ganz gut zurecht, manchmal rege ich mich sehr über andere Leute auf. Ich geh gern auf Trempelmärkte. Da kauf ich sehr gern zum Beispiel Trillerpfeifen von der Bahn, wenn sie günstig sind. Inzwischen bekomme ich Erwerbsunfähigkeitsrente. Dazu verkaufe ich den Straßenkreuzer. Das tut mir gut.
Klaus Schwiewagner (57) erinnert sich, dass er ungefähr 2014 zum Straßenkreuzer kam. Er verkauft das Magazin regelmäßig am Opernhaus und findet die meisten Leute dort „sehr nett“. Manche geben ihm sogar Trinkgeld, „weil ich oft schon so lange stehe und am Ausgang warte“. Klaus gehört außerdem zum Team der Schreibwerkstatt.
Protokoll/Bild: Ilse Weiß
Dolma (ein traditionelles türkisches Essen)
Ich mag Dolma sehr gern. Das sind Paprikaschoten, mit Reis gefüllt. Das hat mir schon als Kind immer geschmeckt. Wenn das aus dem Ofen kommt, das riecht und schmeckt wunderbar und es ist bestimmt nicht so kompliziert zu machen. Ich bin in Nürnberg geboren, mein Vater kam aus der Türkei, meine Mutter ist Deutsche. Ich bin im Martha-Maria-Krankenhaus auf die Welt gekommen, aber in der Türkei aufgewachsen, bei meiner Oma. Das war in Izmir. Ich spreche deswegen Deutsch und Türkisch. Die Oma hat natürlich auch gut gekocht und sie hat für mich gesorgt. Sie ist leider schon gestorben. Aber die Dolma von meiner Mama waren immer die besten. Heute immer noch. Ich hab die ersten Jahre bei meiner Oma gelebt, weil sich mein Papa und meine deutsche Mama scheiden ließen. Da bin ich dann halt zu meiner Oma gekommen. Dann hat mein Papa wieder geheiratet, eine türkische Frau. Und sie ist für mich eigentlich meine Mama. Sie hat mich aus Izmir abgeholt und sie ist diejenige, die Dolma so lecker kocht! Mir hat Izmir gut gefallen, das Lebendige dort, die große Stadt, man konnte sogar mit dem Schiff fahren. Und dann all die Läden und Cafés, auch die Moscheen. Ich bin seit über 15 Jahren Verkäufer beim Straßenkreuzer. Mir gefällt meine Arbeit gut, auch die Leute im Verein. Ich verkaufe vor dem Mercado im Norden von Nürnberg, dort habe ich viele tolle Stammkunden. Bei der Messe verkaufe ich, wenn dort Veranstaltungen sind.
Serkan Cakmak (46) denkt gern an seine Kindheit in Izmir. Der Nürnberger hat die ersten Jahre bei seiner Oma in der drittgrößten Stadt der Türkei verbracht – mit über vier Millionen Einwohnern und dem großen Hafen liegt sie prominent an der Ägäis. Dennoch ist Serkan gern in Nürnberg an der Pegnitz daheim, er fühlt sich als Straßenkreuzer-Verkäufer wohl und akzeptiert.
Protokoll/Bild: Ilse Weiß| strassenkreuzer.info
(wenn es im niederösterreichischen Dialekt ausgesprochen wird)
„Grüne Bohnen oder Fisolen, wie man in Österreich auch sagt“
Meine Oma hat früher immer an einem fixen Tag in der Woche für mich und meine Brüder gekocht. Natürlich kam immer etwas traditionelles Österreichisches aus der heimischen Küche auf den Tisch. Gutbürgerlich und sehr fleischlastig. Echt lecker – aber irgendwann haben wir sie gefragt, ob sie auch mal etwas Vegetarisches zaubern könnte. Sie antwortete: „Ja gut, dann mach ich eben Bauschadln.“ So nennt meine Oma in unserer Heimatregion in Österreich die grünen Bohnen. Allgemein sagt man in Österreich aber auch Fisolen. „Bauschadln“ kann man hochdeutsch mit „Bohnenschalen“ übersetzen. Und das in diesem niederösterreichischen Urdialekt ausgesprochen – von meiner Oma – hört sich einfach entzückend an. Das hat sich bei uns zu Hause zu einem Running Gag entwickelt. Meine Oma kocht noch heute leidenschaftlich gern. Und für mich ist das etwas ganz Besonderes, weil ich so viel mit diesem Gericht verbinde. Auch unter uns Geschwistern. Wenn ich meine Eltern und Großeltern in der Wiener Neustadt in Österreich besuche, dann dürfen „Bauschadln“ natürlich auf dem Speiseplan nicht fehlen.
Ralph Kinner (25) hat es der Liebe wegen nach Hersbruck bei Nürnberg verschlagen. Dort lebt er mit seiner Ehefrau. Österreich vermissen? Eher nicht, weil es einfach umheimlich schön ist, keine Fernbeziehung führen zu müssen. Seine Familie in Österreich besucht er regelmäßig und das bald zu viert, denn Ralph und seine Frau erwarten Zwillinge.
Protokoll/Bild: Yasmin Pohl
Vertraue dir selbst und deinem Gaul
Sprichwörter gibt’s in Kroatien viele, dieses passt aber vielleicht noch immer ganz gut zu mir. Während meine Eltern hier in Nürnberg schon gearbeitet haben, lebten mein Bruder und ich noch unten in Kutina bei den Taufpaten, die streng katholisch waren: Aufstehen, Beten, Holzhacken. Um Gottes Willen. Das war ein christliches Regiment! Und für meinen Bruder und mich nicht schön. Selbstständigkeit war damals wichtig, aber auch zu lernen, dass man auf sich selbst, den Bruder und die Eltern zählen kann. Im Juni 1971 sind wir dann schließlich nach Nürnberg zu den Eltern gekommen. Die ersten Monate wollte ich nur zurück. Besser wurde es erst, als die Schule anfing. Eine Freundin meiner Eltern hat mir damals sehr geholfen. Sie war Ärztin. Jeden Tag bin ich mit meinen Schulheften zu ihr ins Krankenhaus gefahren. Sie hat dann alles, was ich von der Tafel auf Deutsch abgeschrieben habe, auf Kroatisch übersetzt – jeden Tag. So ging das monatelang, bis ich Deutsch verstand. Heute fühle ich mich in beiden Sprachen Zuhause, auch ohne deutschen Pass. Früher wollte ich ihn nicht und auch heute habe ich ihn als EU-Staatsbürger einfach nicht nötig. In meiner Jugend war ich in den Sommerferien oft am Ochridsee in Mazedonien bei meinen Großeltern. Peter und Werner, Freunde, die ich in Nürnberg gefunden habe, sind auch schon mit mir dort gewesen. Hierbleiben oder zurückgehen? Die Frage habe ich mir oft gestellt. Aber mich binden meine fünf Kinder, sechs Enkelkinder und Freunde. Abwechselnd ein paar Monate hier und in Kutina zu leben, das wäre toll!
Josha Romićs (65) Mutter ist Mazedonierin, sein Vater Kroate. Ende der 1960er Jahre sind die Eltern als Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Nürnberg gekommen. Zwei Jahre später haben sie dann Josha und seinen jüngeren Bruder nachgeholt.
Protokoll: Sabrina Marzell
Alles zu seiner Zeit
Obwohl ich in Nürnberg geboren und aufgewachsen bin, verbinde ich Vieles mit Polen. Sei es die polnische Küche wie Pierogi, Bigos, Gołąbki – die übrigens einfach nur überwältigend ist und bei uns zu Hause regelmäßig auf den Tisch kommt – oder die intensive Verbundenheit innerhalb der Familie. Denn wenn es etwas zu feiern gibt, freuen sich alle von ganzem Herzen mit dir. Und läuft mal etwas nicht so, wie man es sich vorstellt, bekommt man so lange den Rücken gestreichelt, bis man wieder genug Kraft getankt hat, um weiterzumachen. Alles kommt zu seiner Zeit und auch wenn noch nicht alle Ziele erreicht sind, ist es wichtig, jeden Moment zu genießen – diesen Lehrsatz hat mir meine Familie für meinen Lebensweg mitgegeben. Ganz besonders hat er mir geholfen, als es nahezu unmöglich war, einen Studienplatz in der Medizin zu bekommen. Mittlerweile studiere ich im vierten Semester Medizin und bin überglücklich – meine Geduld hat sich also ausgezahlt. Und das Beste: In polnischen Familien wird dann natürlich mit einer Żołądkowa (ein süßer Magenbitter, Anm. d. Red.) gemeinsam angestoßen und keiner geht hungrig nach Hause. Na zdrowie!
Kevin Skowronek (24) war in seiner Kindheit mehrmals im Jahr in Polen – vor allem an die Sommerurlaube denkt er gerne zurück. Seine Eltern kamen 1980 aus Polen nach Deutschland. Mittlerweile lebt der Großteil seiner Familie hier. Nach seinen Prüfungen möchte er endlich wieder eine große Rundreise durch die Heimat seiner Familie machen.
Protokoll: Yasmin Pohl
Die Kerze des Lügners brennt nur bis zum Ischa-Gebet
(letztes Gebet des Tages)
Im heiteren Rahmen, bei Familienfesten, werden in der Türkei ganz häufig Redewendungen benutzt, um die Quintessenz einer Geschichte zu unterstreichen. Meine Eltern haben den Spruch oft zu mir und meinen beiden Geschwistern gesagt. Er sollte uns daran erinnern, dass Lügen zwecklos sind. Am Ende des Tages würden sie sowieso herauskommen. Der Spruch hallt in meinem Kopf auf jeden Fall nach. Ich könnte nicht einschlafen mit einer Lüge im Kopf, also versuche ich es zu vermeiden.
Meine Familiengeschichte ist eine Gastarbeitergeschichte: Als erster ist mein Opa nach Düsseldorf gekommen und hat in der Stahlindustrie gearbeitet, meine Oma ist kurze Zeit später nachgezogen – aber meine Mutter und ihre Geschwister sind in der Türkei geblieben. Sie haben sich gegenseitig versorgt und erzogen. Als meine Mutter ihr Abitur gemacht hat und volljährig war, ist sie auch nach Deutschland emigriert. Sie hat in einer Schule dann Deutsch gelernt. Mein Vater kam erst, als er 30 war. Er hat nie so gut sprechen gelernt wie meine Mutter. Ging aber auch nicht, er musste arbeiten. Also spreche ich mit ihm Türkisch, mit meiner Mutter ein Mischmasch. Ich habe ein paar Jahre in Berlin, in Neukölln gelebt. Dort gibt’s eine große türkische Community und es kam oft vor, dass ich mich ganz spontan auf der Straße mit Leuten auf Türkisch unterhalten habe. Hier in Nürnberg passiert mir das viel seltener – und wenn ich länger nicht Türkisch rede, dann fehlt mir das sehr.
Ceren Kurutan (29) ist in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. In ihrer Kindheit waren die Sommerferien, die sie bei ihrer Familie in der Türkei verbrachte, die schönste Zeit im Jahr. Ceren arbeitet in Nürnberg als Dramaturgin.
Protokoll: Sabrina Marzell
Der schwere Stein wiegt schwer nur an seinem Platz
Wenn ich meine Heimat vermisse, denke ich an diese Worte, die meine Mutter immer sagt. Sie bedeuten in etwa, dass der Sinn des Lebens in der Heimat liegt: dort, wo deine Sprache gesprochen wird und wo die Familie und Freunde sind. Meine Heimat ist der Kosovo. Hier wird meine Sprache Albanisch gesprochen, hier liegen meine Erinnerungen und hier sind auch Familienmitglieder und Freunde. Nach 25 Jahren habe ich meine Heimat aber verlassen. Das war wirklich ein schwerer Schritt für mich. Es waren die Umstände, denn die Arbeitslosenquote im Kosovo ist so hoch. Es gab einfach keine Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Heute kann ich sagen, dass diese Entscheidung die beste meines Lebens war. 2015 ging ich nach Regensburg. Dort lebt meine Schwester mit ihren drei Kindern. Ich besuchte einen Deutschkurs und fing zwei Jahre später meinen Master in Linguistik in Erlangen an, den ich erfolgreich absolvierte. Mittlerweile lebe ich in Nürnberg. Ich fühle mich hier pudelwohl. Ich finde es auch schön, dass man immer mal wieder seine eigene Sprache hört. Und jeder, der mich besucht, findet Nürnberg beeindruckend, das macht mich total stolz. Trotzdem habe ich oft Heimweh. Ich versuche, zwei- bis dreimal im Jahr meine Mutter und meinen jüngsten Bruder im Kosovo zu besuchen. Dort kann ich Energie tanken. Und wenn ich dort bin? Dann kommt es auch vor, dass ich Nürnberg vermisse.
Albulene Biba (32) ist in Pejë im Westen des Kosovo aufgewachsen. Heute lebt die junge Frau in Nürnberg und arbeitet bei einer Prüfungs- und Beratungsgesellschaft. Albulene hat sieben Geschwister, die alle verteilt in Europa leben.
Protokoll: Yasmin Pohl
Das Gewand macht nicht den Mönch
In Italien habe ich in einer relativ homogenen Gesellschaft gelebt, in Süditalien, Apulien. Hier in Deutschland habe ich zwar keine Familie, aber ganz viele Freunde, die verschieden sind und vielfältig. Viele sind Opfer von Vorurteilen. Ich selbst werde auch manchmal auf der Straße angesprochen, weil ich ein Kopftuch trage. Das Sprichwort bedeutet für mich, dass man immer den Menschen kennenlernen muss, um sich ein Bild über ihn zu machen. Manchmal erlebe ich bei meiner ehrenamtlichen Arbeit Mädchen, die sich Sorgen machen. Wenn sie eine Bewerbung mit Bild schreiben müssen, dann denken sie schon: Wird dieses Bild eine Auswirkung haben oder nicht? Zunächst ist man eine Frau, dann ist man jung, dann hat man nicht viel Berufserfahrung, dann hat man ein Kopftuch, und dann hat man auch noch einen Namen, der schwierig auszusprechen ist.
Ich kam mit dem Erasmus-Programm als Studentin nach Deutschland und hatte nicht vor, zu bleiben. Aber dann habe ich meinen jetzigen Mann kennengelernt. In Italien hätte er wesentlich weniger verdient. Und ich hatte nichts dagegen, in Deutschland zu leben. Die erste Firma, die ihm zugesagt hat, war in Nürnberg. Es hat ungefähr zwei Jahre gedauert, bis wir hier einen Freundeskreis hatten. Wir haben eine Moschee gesucht und durch die ehrenamtliche Arbeit dort haben wir viele Leute kennengelernt. Das war ein Sprungbrett in die Gesellschaft.
Gabriella De Mitri-Eljojo, 55, stammt aus Italien und wohnt seit über 20 Jahren in Nürnberg. Sie arbeitet ehrenamtlich als Deutschlehrerin in der Stiftung Sozialidee und in der Dialogarbeit der Islamischen Gemeinde Nürnberg.
Protokoll und Foto: Alisa Müller | strassenkreuzer.info
Aubergine
Vinete beschreibt nicht nur die Aubergine als Frucht, sondern auch einen Salat daraus. Jeder Aussiedler aus Rumänien weiß ganz genau, was das ist. Für Vinete grillt man Auberginen im Ganzen, sodass sie von außen sehr verkohlt sind. Dann musst du sie entweder schälen oder in zwei Hälften schneiden und mit einem Löffel das Fruchtfleisch rauspulen. Das wird dann klein gehackt, dann kommen Zwiebeln dazu und ein Viertel Mayonnaise. Ich bin sicher, mein Sohn ist eines von wenigen Kindern, das Mayonnaise von Hand machen kann. Ja, Mayonnaise muss man nicht im Glas kaufen! In Rumänien hat das jeder gegessen, als Brotaufstrich so wie Taramas. Inzwischen kannst du das im Restaurant auch als Vorspeise bestellen. Aber als ich in Rumänien gelebt habe, ist man nicht ins Restaurant gegangen, weil die Leute kein Geld hatten. Wenn es dann im Sommer ganz viele Auberginen gab, hat man einfach Vinete gemacht. Wir haben die Auberginen auf unserem Gasherd auf der offenen Flamme gegrillt. Keiner hat sich daran gestört, dass es im ganzen Treppenhaus danach gerochen hat, weil alle das gemacht haben. In unserer ersten Wohnung in Fürth hatte ich ein Küchenfenster, das ging auf einen Balkon raus, der zu den einzelnen Wohnungen führte. Ich habe Vinete im Backofen gemacht und habe das Fenster aufgemacht, weil ich dachte, es ist ja nach draußen. Aber die Nachbarn, die vorbeigegangen sind, waren sehr entsetzt darüber, was ich mache. Inzwischen machen wir Vinete nur, wenn wir draußen sind.
Dagmar Jöhl, 58, ist als Deutsche in Siebenbürgen in Rumänien aufgewachsen. Nach dem Fall des Ceaușescu-Regimes kam sie als Aussiedlerin nach Deutschland. Sie ist im Vorstand des Straßenkreuzer e.V. und dolmetscht ehrenamtlich für unsere rumänischen Verkäuferinnen und Verkäufer.
Protokolle und Foto: Alisa Müller | strassenkreuzer.info
Die Unterhaltung der Eichelnüsse
Der Satz stammt von meiner Lieblingsessayistin Atsuko Saga, die immer sehr interessiert daran war, mit Menschen aus verschiedenen Generationen und Ländern über Literatur, Philosophie oder Politik zu sprechen. Als „Eichelnüsse“ bezeichnet Saga ganz gewöhnliche Menschen. Darum geht es ihr, dass ganz gewöhnliche Menschen wie du und ich miteinander sprechen und offen diskutieren. In Japan konnte ich in der Öffentlichkeit nur begrenzt über das sprechen, was mich beschäftigt hat. Ich war nur eine Eichelnuss, die allein in einem Wald lag. Seit ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, dass ich mein Wissen und meine Vorstellungskraft erweitern kann. Mich interessiert sehr, wie die Deutschen über globale gesellschaftliche Probleme denken. Ich bin an einem Meinungsaustausch interessiert. Jetzt, so weit weg von Japan, habe ich die Möglichkeit, übers Radio Diskussionen von außen zu verfolgen. Ich sammle Meinungen von „Eichelnüssen“ aus Japan und tausche mich dann darüber mit den „Eichelnüssen“ in Deutschland aus. Dadurch lerne ich sehr viel und kann auch meine Sprachkenntnisse verbessern.
Haruka Fukui (28), kommt aus Japan und lebt und arbeitet seit einem Jahr in Nürnberg. In einem Sprachkurs lernt sie deutsch, um später einmal selbst als „Eichelnuss“ eine Unterhaltung führen zu können.
Protokoll: Sabrina Marzell, Foto: privat
Jedem Affen sein Ast
In Brasilien habe ich Pharmazie studiert und dann als Pharmazeutin in einer Firma gearbeitet. Zeitweise war ich wöchentlich 60 Stunden mit der Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln beschäftigt. Das ist mir eines Tages alles über den Kopf gewachsen. Sicher sieht der Arbeitsalltag bei anderen Pharmazeut:innen womöglich ganz anders aus. Doch die Leute in Brasilien sagen dann diesen portugiesischen Spruch. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass man der Person glaubt, die aus Erfahrung spricht. Ihre Wahrnehmung und Sichtweise wird akzeptiert und daran wird auch nicht gerüttelt. Ich war nah am Burnout und bin sehr froh, dass ich es geschafft habe, davon wieder wegzukommen. Mein Aufenthalt in Deutschland hat viel dabei geholfen. Warum Deutschland? Meine Vorfahren kommen aus Rheinland-Pfalz. Über die Generationen hinweg wurde die deutsche Sprache in unserer Familie aufrechterhalten und die Sprache hat mich fasziniert. Meine ersten Worte auf Deutsch waren „Mama“, „Licht“ und „Bohne“. Fließend sprechen gelernt habe ich in Brasilien nicht – aber das hole ich gerade nach und es macht sehr viel Spaß.
Amanda Ponath (25) kommt aus Igrejinha, einer Stadt im Bundesstaat Rio Grande do Sul. Jetzt lebt sie als Au Pair bei einer Gastfamilie, lernt deutsch und genießt ihren Auslandsaufenthalt in vollen Zügen.
Protokoll: Sabrina Marzell, Foto: privat
Verkleide dich wie die Menschen an diesem Ort
Dieses Hindi-Sprichwort ist in Indien weit verbreitet. Man hört es immer wieder bei Unterhaltungen. Die Menschen aus meinem Heimatland sagen dieses Sprichwort, wenn sie sich außerhalb ihrer Komfortzone bewegen. Das können ganz alltägliche Situationen sein: Ein Abendessen bei einer befreundeten Familie oder eine große Party. Bei Menschen, die man nicht so gut kennt, stößt man anfangs auf Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die einem vielleicht fremd sind. Nichtsdestotrotz will man zusammen essen oder feiern und sich kennenlernen. Ich finde es wichtig, ein Stück weit mitzugehen und sich auch auf Ungewohntes einzulassen – genau das sagt das Sprichwort aus. Und es spornt mich an, die deutsche Sprache und Kultur kennen zu lernen.
Varun Chugh (43) kommt aus Neu-Delhi. Seit 2019 lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Nürnberg. Heute arbeitet er bei Siemens. Die wenige Freizeit, die ihm neben Arbeit und Deutschunterricht noch bleibt, verbringt er am liebsten mit seiner Familie.
Protokoll: Sabrina Marzell, Foto: privat
Die gestreifte Spinne
Immer wenn es regnet, muss ich an dieses Kinderlied denken. Es erinnert mich an Regentage in Thailand und an meine Mutter, die mir das Lied vorgesungen hat, wenn ich nicht einschlafen konnte. In dem Lied geht es um eine kleine Spinne, die vom Regen aus ihrem Nest gespült wird und dann wieder zurück auf das Dach klettert.
Ich bin in einem Dorf namens Roi Et in Thailand aufgewachsen. Während der Regenzeit kommt es dort zu extremen Regenfällen. Überflutungen sind völlig normal – deshalb stehen unsere Häuser dort auch auf Stelzen. Durch die Wellendachplatten aus Metall wurde es bei Regen extrem laut. Das hat mir damals große Angst gemacht. Meine Mutter hat mich dann mit dem Spinnenlied beruhigt. Das hatte eine sehr große Wirkung, denn heute löst Regen bei mir einen völlig anderen Gefühlszustand aus: Ich fühle mich pudelwohl. Ich mach es mir dann zu Hause schön gemütlich, lese ein Buch, zeichne, höre Musik und trinke dabei Kaffee oder Tee. Wenn der Regen nicht zu stark ist, gehe ich auch für einen Spaziergang nach draußen. Und wenn ich mal wieder nicht einschlafen kann? Dann öffne ich YouTube und lass Regensounds im Hintergrund laufen. Schon verrückt, oder?
Natthawut Job Wongkalasin (29) ist als 16-jähriger Junge mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern nach Nürnberg gekommen. Seitdem war er nicht mehr in seiner Heimat – bis zu diesem Jahr: Im August besuchte er für einen Monat seine Familie in Thailand. Jetzt macht er eine Ausbildung zum Gestalter für visuelles Marketing in Erlangen.
Protokoll: Yasmin Pohl, Foto: privat
Es ist sehr schwierig, die Wahrheit des anderen zu verstehen
Dieser baskische Spruch passt zu den Basken und den Spaniern, und auch zu mir. Ich habe es auch in meiner Familie erlebt, dass man nicht versucht, die Sicht des anderen zu verstehen. Darunter haben meine Eltern sehr gelitten. Meine Mama ist Ur-Baskin und ist in einem Dorf bei Donostia-San Sebastián aufgewachsen. Während der Franco-Diktatur war es verboten, Baskisch zu sprechen. Man hat versucht, die Bevölkerung zu mischen, indem Spanier ins Baskenland gekommen sind, um dort zu arbeiten. So kam mein Papa in das Dorf meiner Mama. Sie haben sich beim Tanzen kennengelernt. Meine Großeltern hatten viel Angst, weil er kein Baske war. Es gab immer Spannungen, es war traurig, auch für mich und meine Geschwister. An der Stelle meiner Eltern wäre ich vielleicht nicht mehr zu den Familientreffen gegangen, aber meine Mutter wollte den Kontakt nicht ganz abbrechen. Ich hatte trotz allem einen sehr engen Kontakt zu meinen Großeltern, jede Ferien habe ich bei ihnen verbracht. Ich denke, sie hätten mehr Fingerspitzengefühl haben sollen meiner Mutti gegenüber. Es ist nicht gut für die Tochter, wenn der Partner verstoßen wird, und für die Enkelkinder auch nicht.
Franco ist vor fast 50 Jahren gestorben, aber diese Empfindlichkeiten werden von Generation zu Generation weitergegeben. Dieser Hass gegen das Spanische ist noch da. Aber es hat sich einiges getan, wir Basken haben ein eigenes Schulsystem, eine Polizei, Regierung, Parteien und ein Gesundheitssystem. Du wirst als Baske nicht mehr unterdrückt und wenn doch, dann musst du politisch für deine Rechte kämpfen.
Arantza Estefanía Aguirre (51) arbeitet als Dozentin für Spanisch an der Volkshochschule Erlangen und gibt Seminare zum Baskischen. Sie ist zu Zeiten der Franco-Diktatur im Baskenland aufgewachsen und wohnt seit 22 Jahren in Deutschland.
Foto, Protokoll: Alisa Müller
In der Eile steckt der Teufel
Ich war noch ein kleines Mädchen, als meine Eltern mit mir und meinen beiden Brüdern aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet sind. Meine Eltern sind Kurden. In der Türkei waren sie deshalb Anfeindungen ausgesetzt. In einem Land zu leben, in dem ich meine Meinung nicht frei äußern darf oder meine Herkunft verleugnen muss, um mich vor Gewalt zu schützen, ist grauenhaft. Meinen Brüdern und mir wollten sie das ersparen! Sie haben den Mut aufgebracht, ihr Leben in der Türkei aufzugeben und in Deutschland neu anzufangen. Ich bin ihnen für ihre Entscheidung unendlich dankbar. Die Situation in der Türkei bedrückt mich! Zum Beispiel der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention. Regelmäßig werden in der Türkei Frauenrechte verletzt. Die Konvention hat Frauen geschützt und dieser Schutz fällt jetzt weg. Das ist schrecklich und ein unglaublicher Rückschritt, was die Gleichstellung der Frau betrifft.
Der türkische Spruch ist einer meiner Wort-Schätze. Ich erlebe den Alltag oft sehr hektisch und habe das Gefühl, die Zeit wird immer knapper. Entscheidungen werden oft in der Eile getroffen. Und das kann schwerwiegende Folgen für Mensch und Natur haben. Auch im Unternehmertum begegnet mir das. Mein Job ist es, den Blick angehender MitarbeiterInnen in einem Unternehmen für soziale Belange zu schärfen, wie zum Beispiel die Inklusion von Menschen mit Behinderung oder Vereinsamung am Arbeitsplatz. Aber Umdenken und anders als gewohnt zu entscheiden, das braucht oft Zeit.
Berivan Zerze (33) ist in der Türkei in Kahramanmaraş, im südlichen Teil Anatoliens, geboren und im Alpenvorland aufgewachsen. Nach dem Abitur zog sie nach Frankfurt am Main. Danach nach Worms. Dann nach Singapur. Später nach Berlin. Heute lebt die junge Frau in Nürnberg und arbeitet an der Technischen Hochschule in der Abteilung „Social Impact & Entrepreneurship“.
Protokoll: Sabrina Marzell, Foto: Privat
Siebenmal Messen, einmal Schneiden
Die russische Redewendung besagt, dass man besser siebenmal nachdenken sollte, bevor man handelt. Viele Menschen in Russland kennen sie – doch angesichts der russischen Politik denke ich, dass noch viel mehr Menschen diese Redewendung leider nicht kennen. Wegen des Russland-Ukraine-Konflikts musste ich mich als Russin mit einer Anfeindung auseinandersetzen. Das war keine gute Erfahrung. Denn eigentlich waren er und ich einmal Freunde – ob ich mit ihm noch befreundet sein kann, weiß ich nicht. Als Au-pair bin ich aus Russland zu einer deutschen Gastfamilie gekommen. Die Arbeit mit den Kindern macht mir sehr viel Spaß und ich kann mein Deutsch verbessern. Ich komme aus der Stadt Ufa. Ich habe sehr gerne dort gelebt und in meiner Freizeit viel Baseball gespielt. Die Idee, nach Deutschland zu kommen, kam durch meine Mutter. Sie hat als junge Frau eine Zeit lang in Deutschland gelebt und sehr davon geschwärmt. Inzwischen gefällt es mir in Nürnberg ganz gut. Es war nicht immer einfach, alleine und so weit weg von zu Hause. Aber ich stecke mir Ziele: Ich möchte später einmal als Lehrerin in einer Grundschule arbeiten.
Kamila Nurkaeva (20) arbeitet als Au-pair. Sie wohnt bei einer Familie in Schwabach und lernt gerade fleißig Deutsch. In ihrer Freizeit würde sie wieder sehr gerne Baseball in einem Verein spielen.
Ein Kopf geht nicht alleine
Das soll heißen: Man soll sich mit anderen Köpfen zusammen hinsetzen, auch ihre Sichtweise der Sache hinterfragen und letztendlich kann man die richtige Entscheidung treffen. Ich habe das mit meinen Kumpels in der Schulzeit immer verwendet, wenn wir diskutiert haben. Es kommt aus der Sprache Twi, die Sprachfamilie heißt Akan. Akan-Sprachen sind untereinander verständlich, etwa wie Bayerisch und Schwäbisch, und man kann sie in ganz Ghana verwenden. Ich habe Twi in Ghana in der Schule gelernt und später sogar an der Uni. Wenn man eine Sprache lernt und Sprichwörter verwendet, sind die Menschen begeistert. Ich habe in Ghana vier Semester Psychologie studiert, und dann habe ich alles weggeschmissen: Ich habe meine letzte Klausur geschrieben, und am nächsten Tag saß ich im Flugzeug nach Deutschland. Ich dachte: Es ist, wie es ist. Jetzt gehst du. Und dann war ich weg.
In Deutschland hatte ich erst einmal einen Kulturschock. Ich dachte: So werde ich nicht leben können, das ist alles komisch. In Ghana kannst du nicht in einem Bus sitzen, ohne zu hören, dass jemand spricht. Auch Leute, die sich gar nicht kennen, diskutieren miteinander, es ist lebendig, es wird Musik gespielt oder es ist ein Radio an. Und hier bin ich in den Bus eingestiegen und dachte: Sind die alle krank? Kein Wort, nicht mal ein Lächeln? Mittlerweile habe ich verstanden, dass viele Leute auf dem Weg zur Arbeit sind und nur im Kopf haben: Was habe ich gestern nicht geschafft, was muss ich heute schaffen? Das macht schon Sinn. Ich mache es mittlerweile genauso.
Abdul Labaran (43) kam vor über zehn Jahren aus Ghana nach Deutschland. Er hat in Bayreuth Soziologie studiert, wohnt in Nürnberg und arbeitet in Fürth mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Die Zeiten regieren, nicht die Könige
Es gibt kaum einen Tag, an dem ich nicht an diese georgische Weisheit denke. Wir meinen, alles kontrollieren und planen zu können, doch die Zeit hat das Sagen. Nichts können wir erzwingen, wenn die Zeit dafür noch nicht reif ist, genauso wie wir nichts hinauszögern können, wenn etwas soweit ist.
Ich bin in Georgien geboren und habe dort gelebt bis ich 18 war. Ich nehme Georgien als meine leibliche Mutter wahr, die mich schweren Herzens loslassen musste, da sie mir nicht alle Perspektiven bieten konnte, die ich mir gewünscht hatte. Sie hat mich zu meiner Adoptivmutter – Deutschland – geschickt, die mich sehr gut angenommen hat. Aber die leibliche Mutter bleibt eben immer DIE Mutter. Ich freue mich immer, wenn die Menschen sich für Georgien interessieren. Es ist so, als würde man sich für meine Person interessieren. Als ich ein Kind war, waren wir sehr arm und perspektivlos. Die Kunst hat mir geholfen, mich an meinen Träumen festzuhalten. Ob kalte Klassenzimmer, verlassene Gebäude oder der Innenhof unseres Plattenbaus: Ich habe mit meinen Freunden überall „Konzerte“ gemacht. Unsere Zuschauer haben das genossen. Es war ihre einzige Verbindung zu Kunst. Kunst ist kein Luxus, sondern überlebenswichtig, gerade in den Krisenzeiten. Das ist meine Lehre.
Veriko Modebadze (37) ist Schauspielerin und Regisseurin. Sie engagiert sich im georgischen Verein INKO e.V in Nürnberg, ist Leiterin der Kindertheatergruppe „Tolia“, betreibt eine Pop-up-Galerie mit fünf anderen Künstlern aus dem Raum Nürnberg. veriko-modebadze.de
Foto: Christian Mitschke
Bezahlen auf Deutsch
Das ist eine Redewendung, die sich in der Türkei eingebürgert hat. Es bedeutet, dass jeder nach dem Essen getrennt für sich bezahlt. Der Spruch verbindet beide Länder und zeigt, wie sich Grundzüge einer Kultur in einer anderen niederschlagen. Und natürlich ist es eine Zuschreibung, die nicht hundertprozentig stimmt. Ich bin hier als Kind sogenannter Gastarbeiter aufgewachsen. Sogenannt, weil man Gäste ja eigentlich nicht arbeiten lässt. Wir türkischen Kinder sind damals alle in die Holzgartenschule gekommen, wir hatten den gesamten Unterricht auf Türkisch, bis auf Heimat- und Sachkunde und Deutsch. Weil man davon ausging, dass die Türken ja alle wieder gehen. Es gab im Alltag wenige Kontakte zwischen Türken und Deutschen. Das war auf beiden Seiten so gewollt. Hans und Ali haben gemeinsam in der Fabrik gearbeitet, den Feierabend hat jeder in seiner Kultur verbracht. Zum Glück ist da in den letzten 60 Jahren viel Gutes passiert. Inzwischen haben wir türkischstämmige Politiker auf allen Ebenen, sogar einen Minister. Persönlichkeiten, die für alle Politik machen, eben mit einem ungewöhnlichen Namen. Es muss vorangehen und ich bin optimistisch! Ich liebe Nürnberg und ich mag die Menschen hier, bin natürlich Clubfan. Ich engagiere mich als Vorsitzender der tgmn, der „Türkischen Gemeinde für die Metropolregion Nürnberg“ für demokratische Werte. Aufgrund der NSU-Morde hat sich der Verein 2007 als Verband von Vereinen gegründet, um eine starke, gemeinsame Stimme zu haben. Wir sind strikt gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus, egal aus welcher Richtung. Man macht sich mit dieser Haltung nicht überall Freunde.
Bülent Bayraktar (48) ist in Anatolien geboren und kam mit fünf Monaten nach Deutschland. Er ist Diplom-Kommunikationswirt und arbeitet im Marketing. Außerdem ist er Vorsitzender der „Türkischen Gemeinde in der Metropolregion Nürnberg e.V.“
tgmn.de
Foto: privat
Alles vergeht, es wird vorübergehen.
Meine Mutter hat diese Inschrift im Ring von König Salomon gerne verwendet, wenn schwierige Zeiten waren. Ich habe mich immer daran erinnert, und jetzt sind ja auch schwierige Zeiten. In der Ukraine ist ein Krieg ausgebrochen, immer mehr Kriegsflüchtlinge kommen in Deutschland an. In jedem Schlechten gibt es auch was Gutes, das sehen wir jetzt, wo sich so viele Leute engagieren und versuchen zu helfen. Ich arbeite in der Fachstelle für Flüchtlinge, wir sind für die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig. 2015 hatten wir mehr als 200 Unterkünfte, heute sind weniger als 20 geblieben. Das ist eine Herausforderung. Russisch ist meine Muttersprache. Wir kommen zwar aus Usbekistan, meine Vorfahren waren aber polnischer Abstammung. Nach der Revolution wurden sie vertrieben. Viele Menschen haben damals ihre Herkunft verschwiegen, sich auch andere, russische Namen gegeben, das war unter Stalin sicherer. Mein Mann kommt aus der Ukraine, mein Schwiegervater lebt in Lemberg, ich habe eine Freundin aus Kiew eine Woche in unserer Wohnung aufgenommen. Viele Leute sind traumatisiert. Ich hoffe, dass Salomon Recht hat, auch diesmal.
Natalya Adah (49) ist in Taschkent geboren. Sie kam 2001 nach Nürnberg und arbeitet in der Fachstelle für Flüchtlinge.
Foto: Giorgos Agelakis
Meine schwierige Lebenssituation ist für mich kein Grund, hässlich auszusehen.
Meine Oma hatte wirklich eine schwierige Situation. Nachdem ihr Mann gestorben war, musste sie viele Behördengänge machen. Sie waren nicht verheiratet, da musste sie einiges nachweisen und nachreichen. Ich wollte sie begleiten und in der Früh bereiteten wir uns vor. Sie macht den Schrank auf, holt die schönste Bluse raus, den besten Schmuck, zieht ihre Lippen nach, macht sich eine hübsche Frisur… Ich sage: Oma, wir gehen doch nicht auf ein Fest! Und sie hat diesen Satz gesagt. Er begleitet mich seitdem mein Leben lang. Und tatsächlich, später, als ich nach Deutschland gekommen war und teilweise echt schwierige Situationen hatte, habe ich gemerkt: Wenn du dich von außen hübsch gemacht hast, geht es dir innen auch gut. Das ist wie ein Zauber, das wirkt auf alles andere, obwohl du dich am liebsten unter die Decke verkriechen und heulen wolltest. Für mich war meine Oma ein Vorbild, diese Stärke. Im März 2000 bin ich nach Deutschland gekommen, da war ich 23 Jahre alt. Ich habe meine Oma regelmäßig besucht, aber sie ist 2019 leider verstorben. An den Spruch hat sie sich tatsächlich bis zuletzt gehalten.
Iryna Kovalchuk (44) kam mit 23 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland. Seit 2007 wohnt sie in Fürth und arbeitet als Sachbearbeiterin. Ihre Muttersprache ist Ukrainisch.
Foto: Alisa Müller
Das beste Ziel ist eine Nacht der Rast,
wenn Feuer brennt und Brot man bricht in Hast.
Dort wo man schläft ein einziges Mal, und lang,
ist gut der Schlaf, der Traum erfüllt von Klang …
Die schwedische Dichterin Karin Boye war immer widerständig in ihrer Schreibweise, das gefällt mir. Ich habe ein Jahr lang, bis August 2021, in Schweden Literatur und Medien studiert. Gedichte waren für mich am Anfang einfacher zu lesen als gleich ein Buch. Jetzt arbeite ich als Journalistin und unterrichte Deutsch als Fremdsprache. Wenn’s gar nicht anders geht, erkläre ich Vokabeln auf Englisch oder mit Händen und Füßen. Ich würde ohne diese Aufgabe nie mit so vielen unterschiedlichen Menschen in Berührung kommen. Über die Sprache kommen wir ganz schnell zu Kultur, Politik, das Leben vorher und jetzt. So unterschiedlich die Menschen sind, viele sind von der Hektik hier irritiert, dass immer alles schnell gehen muss.
Sabrina Marzell (31) arbeitet als Journalistin unter anderem für die Medienwerkstatt und auch für den Straßenkreuzer. Die Rubrik „Mein Wort-Schatz“ wird sie künftig mit betreuen.
Foto: Ilse Weiß
Den Spruch hab ich vor ungefähr 20 Jahren in meinen Terminkalender geschrieben, später in den Computer getippt, ausgedruckt und an meinen Bücherschrank gegenüber vom Schreibtisch geheftet. Da hängen noch mehr Sprüche. Vom Friedensreich Hundertwasser, von Horaz, auch vom Jaroslav Hašek, den ich sehr schätze: „Der Fortschritt ist eine zweischneidige Waffe wie das Bier. Die Leute machen sich dran und wissen nicht wann sie aufhören sollen. Und darum Vorsicht mit dem Fortschritt.“ Die Sprüche hab ich alle immer vor mir. Und wenn mir schwermütig wird, dann schau ich drauf, les sie und gut is..
Klaus Schamberger (80) ist Kolumnist und Autor. Soeben erschien seine Autobiografie „Wie ich einmal nicht der Morlock geworden bin“ (s. S. 34).
Foto: Timm Schamberger